Ergonomie. Wissenschaft oder Mode?
Radfahrer und insbesondere Radsportler versuchen ständig ihre Position auf dem Rad zu verbessern.Einleuchtende Gründe dafür gibt es viele. Fast immer steckt schlichtweg der Wunsch dahinter, die Leistungseffizienz zu steigern. Auch das Vermeiden von Beschwerden jeglicher Art dient letztendlich diesem Ziel. Nun glauben wir ja gerne an eine kontinuierliche Entwicklung, Verbesserung in allen Lebensbereichen. Neue technische Möglichkeiten und medizinische Fortschritte sind hierfür zwei einsichtige Beispiele. Aber gibt es eine derartige gradlinige Entwicklung auch in der Ergonomie auf dem Fahrrad?
Beobachtbare Veränderungen sind da. Und die Vielzahl der angebotenene Komponenten, die ein Fahrrad ausmachen, und sich heute anders darstellen, auch und gerade in maßlicher Hinsicht als noch vor wenigen Jahre, reißt nicht ab.
Die Fachpresse erklärt uns regelmäßig dazu deren Benefit.
Umso ingeressanter war der rückblickende Vergleich von Sitzpositionen auf dem Rennrad des amerikanischen Fachjournalisten Jan Heine, Herausgeber der Zeitschrift Bicycle Quarterly und Autor von Fachbüchern (u.a. "The competition bicycle") in der BQ Summer 2012*.
Hieraus ergab sich im Oktober 2012 ein Mail-Wechsel zwischen mir und meinem Freund Wolfgang, einem passionierten Berge- und Pässesammler auf dem Rennrad mit Wohnsitz am Bodensee, der soviel Interessantes und diskussionswürdiges enthält, dass er nachfolgend hier steht und zur Weiterführung einlädt.

* Bicycle Quarterly Summer 2012, Issue No.40 ISSN 1941-8809
Jan Heine
Compass Bicycles Ltd.
www.compassbicycle.com
(Sollten Schwierigkeiten in der Beschaffung des Artikels bestehen, helfe ich gerne mit meiner Ausgabe der BQ)
Hallo Klaus, mit großem Interesse hab ich den Artikel zur Sitzposition gelesen. Einige Aussagen provozieren allerdings Widerspruch. Es ist ja schön für den Autor, dass er ein 600km-Brevet in rennmäßig gestreckter Sitzposition bewältigen kann. Alle anderen, die das nicht können aber damit abzuqualifizieren, dass er behauptet, der Wunsch nach kürzerem Reach und kleinerem Drop käme von denen, die (sinngemäße Übersetzung) "Rennrad fahren wollen, ohne die Leistungsfähigkeit und die Form dafür zu haben" ist schon an der Grenze zur Arroganz. Es gibt auch einen anderen Grund, warum viele ordentlich fahren können und trotzdem nicht so "sportlich" sitzen mögen: Ich höre immer wieder und beobachte auch an mir selbst, dass Nackenverspannungen durch die stark gebeugte und gestreckte Haltung sehr häufig vorkommen. Wenn schon Vorschädigungen vorliegen (hab auch Bandscheiben in dem Bereich, die nicht mehr korrekt sitzen), ist es fast zwangsläufig erforderlich, den Beugewinkel des Rückens anzupassen und dabei eben nicht den Weg zu wählen, den Lenker einerseits höher zu setzen und andererseits den Vorbau bzw. Reach zu verlängern, weil dies im Endeffekt für den Relativwinkel zwischen Rücken und Nacken auf dasselbe herauskommt und auch noch die Schultergelenke stark verdreht. Die These, dass stärkere Neigung zu größerer Kraftentfaltung führt, weil die Streckmuskeln stärker gedehnt sind, scheint mir auch unbewiesen. Gerade bergauf, wo hoher Krafteinsatz erforderlich ist, sitzt ja fast jeder eher aufrecht, in Bremsgriff- oder Oberlenkerhaltung. Für die tiefe Haltung spricht aus meiner laienhaften Sicht nur die Aerodynamik. Ich hab auch mal gelesen, dass die Lungen mehr Raum hätten, wenn man deutlich aufrechter fährt. Am besten gefallen hat mir, dass er in seinen Schlussfolgerungen schreibt, es gäbe ja zum Glück noch Lenker mit großem Reach und Drop, da sich eines sicher nicht geändert hätte: Die Sitzhaltung der Profis.... Zuvor stellt er den italienischen Altmeister sogar im Bild dar, der den Lenker bestimmt 10cm weiter oben hat als jeder heutige Rennfahrer! Dass die Fahrstabilität im Prinzip bei kurzen Vorbauten bzw. Reach schlechter ist, stimmt vielleicht. Beim Wechsel vom 110mm - Vorbau auf den 90er und den weniger vorgebogenen Lenker hab ich aber keinen Unterschied beobachtet. Der Kollege, mit dem ich ab und an fahre, meinte sogar, ich hätte eine ausgesprochen spurtreue Fahrweise. Klar, dass man nicht mit durchgestreckten Ellbogen fahren sollte, und dass starker Druck auf die Hände zu vermeiden ist, wozu man eine gute Stützmuskulatur im Rücken braucht.
Wolfgang

Hallo Wolfgang,

Hallo Klaus,
während einer kurzen Arbeitspause spinne ich unseren Diskussionsfaden mal
weiter. Unter Pendeln versteht die Motorradtechnik niederfrequente
Lenkschwingungen, in der Regel auf Grund äußerer Einwirkung. Beispiel: Ein
Hindernis wird umfahren, der Fahrer lenkt zu diesem Zweck in eine Richtung
und anschließend versucht er, wieder auf die Linie zu kommen. Wenn die
Lenkung ein nahezu ungedämpftes Schwingsystem wäre, folgt daraus eine
schlangenlinienförmige Bewegung mit immer geringeren Amplituden, bis die
Geradeausfahrt erreicht ist. Dieser Zustand ist natürlich unerwünscht, es
soll ja möglichst sofort zurückgelenkt werden ohne Nachschwingen.
Also bedient man sich bei Motorrädern, die durch ungünstige Geometrie oder
Massenverteilung zum Pendeln neigen, Dämpfungsenrichtungen. Früher, in den
50ern und 60ern waren dies meist einfache, mit einem Drehknebel in der
Lenkachse einstellbare Reibungsbremsen. Später wurden und werden weit
wirksamere und vor allem langsame Lenkbewegungen kaum beeinflussende
hydrauliche Dämpfer verwendet.
Pendeln ist also ein zwar relativ ungefährlicher, aber störender
Fahrzustand. Beim Fahrrad habe ich dies in der Form noch nie beobachtet.
Allerdings sind die Massenverhältnisse natürlich ganz anders,
möglicherweise kommt das wirklich nicht vor. Was man dagegen oft sieht,
sind die Lenkausschläge in der Frequenz des Tritts, besonders natürlich
beim Wiegetritt. Das sehe ich aber als Problem der individuellen
Tritttechnik, nicht des physikalischen Systems - oder kannst Du dazu
andere Erfahrungen einbringen?
Anders verhält es sich mit dem zu Recht berüchtigten "Shimmy". Ich
erinnere mich noch gut an das alte Zündapp-Moped eines Mitschülers vor
fast 40 Jahren, das immer bei einer bestimmten Geschwindigkeit
fürchterliches Lenkungsflattern hatte. Da konnte man nur beherzt Gas
geben, bis die kritische Phase überwunden war. Wenn ein Angsthase das Gas
wegnahm, wurde die Sache nur schlimmer.
Das Lenkungsflattern braucht nämlich keine äußere Ursache, sondern beruht
auf wiederholten Anregungen im Schwingsystem Fahrwerk/Lenkung selbst. Eine
Möglichkeit sind leichte Seitenschläge oder Unwuchten im Laufrad. Wenn nun
die Frequenz der Anregung (z.B. Raddrehzahl) genau zur Eigenfrequenz des
Fahrzeugs bzw. dessen Lenksystems passt, schaukelt sich das System
unkontrollierbar auf. Das gilt natürlich auch, wenn Anregung und
Eigenfrequenz in ganzzahligen Vielfachen zueinander stehen, also die
Unwucht auf jede 2. Eigenschwingung trifft.
Die Eigenfrequenz des Fahrzeugs ist im wesentlichen von den Massen der
bewegten Teile und deren Verteilung und Entfernung von der Drehachse
abhängig - physikalisches Grundwissen, kennst Du ja auch noch. Je größer
die Masse und vor allem je weiter diese vom Drehzentrum diese angeordnet
ist, desto niedriger die Eigenfrequenz und umgekehrt.
Es gilt nun, die Eigenfrequenz in einen Bereich zu bringen, der außerhalb
der normalen Anregungsfrequenzen, also z.B. der Raddrehzahl bei normalen
Geschwindigkeiten, ist. Alternativ hilft hier in begrenztem Maß "dämpfen",
bzw. Werkstoffe mit Eigenschaften verwenden, die Dämpfung immanent haben.
Faserverbundwerkstoffe können das ja sehr gut, durch die von Dir schon mal
früher zitierte Anisotropie. Die Massenverteilung lässt sich bei
Fahrrädern in begrenztem Maß beeinflussen: Weniger Laufradgewicht
(besonders Felgen und Reifen), leichte Lenker = hohe Eigenfrequenz.
Allerdings tritt da stets der Fahrer als "Störkomponente" auf, dessen
Gewichtskraft auf den Lenker ja auch "irgendwie" Einfluß nimmt - das Wie
ist aber meines Wissens ein ungelöstes Rätsel.
Motorradbauer gehen mitunter den umgekehrten Weg: Simple Bleigewichte in
den Lenkerenden senken die Eigenfrequenz der ohnehin schwereren Systeme so
weit ab, dass diese in der Fahrpraxis auch keine störende Rolle mehr
spielen. Fürs Rad eher kein sinnvoller Weg ;-)
Ich denke daher, dass moderne Carbonrahmen mit gezielt berechneten
Steifigkeiten und hoher Eigendämpfung viel gebracht haben, um "Shimmy" zu
überwinden. Wenn ich an ein Alu-Tourenrad der allerersten Generation
denke, das ich vor Jahrzehnten mal kurz hatte, oder an das "Mixte"-Rad von
Doris vor vielen Jahren, sehe ich da weit mehr Potential zum
Lenkerflattern, da ganz sicher bedingt durch die geringe Steifigkeit der
Rahmen in seitlicher Richtung. Mit 70 den Berg runter hätte ich damit
nicht fahren wollen!
Noch eine abschließende Frage zur Lenkerbreite, deren Veränderung im Lauf
der zeit Du erwähnt hattest: Welche Dimensionen fuhr man denn früher,
bevor der Trend wieder zu breitern Teilen ging?
Wolfgang
Hallo Wolfgang,
ich habe die Begriffe und Phänomene Pendeln und Shimmy noch nie so beschrieben bekommen, und mir sofort Deine Mail für meine Sammlung an Technikunterlagen ausgedruckt. Ich werde sie demnächst bei
Bedarf zur Erklärung anderen Radsportlern zukommen lassen. Dein Einverständnis vorausgesetzt.
Neulich las ich noch den Leserbrief eines Radsportlers über sein "Shimmy" und die redaktionelle Antwort, er möge doch ´mal einen Rollenlagersteuersatz versuchen. Man weiß es nicht besser.
Aber ich jetzt! - Ich bin so was von begeistert über Dein Zweiradwissen, Du kannst es Dir nicht richtig vorstellen!
Wheelflop und Lenkerbreite:
1927 Alcyon Tour de France f: 23mm Lenkerbreite 465mm
1939 Oscar Egg f: 21mm
Lenkerbreite 420mm
1949 Fausto Coppis Bianchi f: 9mm Lenkerbreite 400mm
1974 Eddy Merckx De Rosa f: 14mm Lenkerbreite 425mm
2012 keine Angaben zum Wheelflop-Faktor herstellerseits und in den Radtests, aber Lenkerbreite 440mm ist schon Standart und breitere durchaus zu beobachten
Klaus
Hallo Klaus,
ich hab ein wenig recherchiert und
endlich weitere Info zum Wheelflop-Faktor f bekommen. Anscheinend wird
diese Größe fast nur in USA betrachtet. Sie ist nichts anderes als ein
simpler Rechenwert aus Nachlauf und Lenkwinkel:
f = Nachlauf x Sinus Steuerwinkel x Cosinus Steuerwinkel
mit 54mm Nachlauf und 74° Lenkwinkel (aus dem Tour-Test) ergibt das bei
meinem Madone 14,3mm. Falls der Lenkwinkel 73° beträgt, wie in einer
anderen Quelle gefunden, wäre der Wert schon 15,09mm.
Mit einem nur 405mm breiten Lenker (Mitte-Mitte Rohr) fahre ich sehr gut
dabei. Gemäß Schulterbreite sollte der Lenker etwas breiter sein, aber mit
dem gewünschten geringen Drop und Reach gibt's den Ritchey-WCS-Lenker nur
so. Gegenüber dem 420mm-Originallenker merkte ich keine Änderung in punkto
Fahrstabilität.
Meiner bescheidenen Meinung nach braucht man den wheelflop-Faktor nicht
wirklich. Es reicht, auf die beiden Einzelwerte zu schauen, wobei der
Einfluß eines flacheren Lenkwinkels rechnerisch etwas stärker als der
eines längeren Nachlaufs ist, jedenfalls sofern dieser Winkel im üblichen
Bereich oberhalb 70° liegt. Vielleicht ist die Angabe deshalb nicht mehr
so im Fokus.
Der Vorschlag, eine Shimmy-Neigung mittels anderem Steuersatz zu
bekämpfen, klingt erst mal blöd. Aber da Flattern bereits durch kleinste
Störungen initiiert wird, genügt oft auch eine ganz kleine Änderung, um
dieses Phänomen zu bekämpfen. Die etwas höhere Reibung eines neuen und
spielfrei angezogenen Steuersatzes mag schon reichen. Richtig ist es
natürlich, erst mal typische Störgrößen wie schlecht zentrierte Räder,
nicht rund laufende Reifen oder Unwuchten zu eliminieren.
Klar kannst Du meine Abhandlung auch Anderen zur Verfügung stellen. Ich
such auch mal auf der Bühne mein altes Lehrbuch zur Motorradtechik. Da
steht vielleicht etwas zu den Grundsätzen der Fahrdynamik - wissen tu
ich's nicht mehr so genau, schließlich hörte ich das Studienfach schon
1980/81...
Wolfgang
Hallo Wolfgang,
Moinmoin Klaus,
freut mich sehr, dass Dich das Buch von Peter Winnen so fesselt. Ich
konnte auch kaum weg davon, wahrscheinlich werd ich mir auch noch seine
Essays bei Covadonga bestellen. Der Winter steht ja vor der Tür, außerdem
noch hin und wieder eine Bahnreise.
Zuvor las ich übrigens auch was Nettes: Marbod Jäger "zu spät geschaltet"
- teils Realismus, teils Realsatire und auf jeden Fall für mich wichtig,
um die Warnzeichen des entstehenden Rennradwahns zu erkennen... ;-))
Danke auch für die hochinteressanten Links! Hatte bisher sehr wenige
Seiten aus dem angelsächsischen Sprachraum gefunden, mit denen ich was
anfangen kann. Hier sehe ich mich auch schon länger im Netz verweilen als
gedacht. Der Berechnungsansatz geht ja vom "Fork Offset" aus, der eher
nicht in den Daten der Räder zu finden ist. So hab ich kurz mal
durchprobiert, bis sich auf den Nachlaufwert, der mir ja bekannt ist,
gekommen bin. Die Ergebnisse passen stimmen zu der bekannten Formel.
Ob es noch Walzensteuersätze für Fahrräder gibt, weiß ich nicht. Bei
Motorrädern kann ich zumindest bestätigen, dass BMW seit den 1970er Jahren
Kegelrollenlager eingebaut hat, also das, was geometrisch korrekt ist.
Wolfgang