Ergonomie. Wissenschaft oder Mode?

Radfahrer und insbesondere Radsportler versuchen ständig ihre Position auf dem Rad zu verbessern.Einleuchtende Gründe dafür gibt es viele. Fast immer steckt schlichtweg der Wunsch dahinter, die Leistungseffizienz zu steigern. Auch das Vermeiden von Beschwerden jeglicher Art dient letztendlich diesem Ziel. Nun glauben wir ja gerne an eine kontinuierliche Entwicklung, Verbesserung in allen Lebensbereichen. Neue technische Möglichkeiten und medizinische Fortschritte sind hierfür zwei einsichtige Beispiele. Aber gibt es eine derartige gradlinige Entwicklung auch in der Ergonomie auf dem Fahrrad?

Beobachtbare Veränderungen sind da. Und die Vielzahl der angebotenene Komponenten, die ein Fahrrad ausmachen, und sich heute anders darstellen, auch und gerade in maßlicher Hinsicht als noch vor wenigen Jahre, reißt nicht ab.

Die Fachpresse erklärt uns regelmäßig dazu deren Benefit.

Umso ingeressanter war der rückblickende Vergleich von Sitzpositionen auf dem Rennrad des amerikanischen Fachjournalisten Jan Heine, Herausgeber der Zeitschrift Bicycle Quarterly und Autor von Fachbüchern (u.a. "The competition bicycle") in der BQ Summer 2012*.

Hieraus ergab sich im Oktober 2012 ein Mail-Wechsel zwischen mir und meinem Freund Wolfgang, einem passionierten Berge- und Pässesammler auf dem Rennrad mit Wohnsitz am Bodensee, der soviel Interessantes und diskussionswürdiges enthält, dass er nachfolgend hier steht und zur Weiterführung einlädt.

 

* Bicycle Quarterly Summer 2012, Issue No.40 ISSN 1941-8809
Jan Heine
Compass Bicycles Ltd.
www.compassbicycle.com
(Sollten Schwierigkeiten in der Beschaffung des Artikels bestehen, helfe ich gerne mit meiner Ausgabe der BQ)

Hallo Klaus,

mit großem Interesse hab ich den Artikel zur Sitzposition gelesen. Einige 
Aussagen provozieren allerdings Widerspruch. Es ist ja schön für den 
Autor, dass er ein 600km-Brevet in rennmäßig gestreckter Sitzposition 
bewältigen kann. Alle anderen, die das nicht können aber damit 
abzuqualifizieren, dass er behauptet, der Wunsch nach kürzerem Reach und 
kleinerem Drop käme von denen, die (sinngemäße Übersetzung) "Rennrad 
fahren wollen, ohne die Leistungsfähigkeit und die Form dafür zu haben" 
ist schon an der Grenze zur Arroganz.

Es gibt auch einen anderen Grund, warum viele ordentlich fahren können und 
trotzdem nicht so "sportlich" sitzen mögen: Ich höre immer wieder und 
beobachte auch an mir selbst, dass Nackenverspannungen durch die stark 
gebeugte und gestreckte Haltung sehr häufig vorkommen. Wenn schon 
Vorschädigungen vorliegen (hab auch Bandscheiben in dem Bereich, die nicht 
mehr korrekt sitzen), ist es fast zwangsläufig erforderlich, den 
Beugewinkel des Rückens anzupassen und dabei eben nicht den Weg zu wählen, 
den Lenker einerseits höher zu setzen und andererseits den Vorbau bzw. 
Reach zu verlängern, weil dies im Endeffekt für den Relativwinkel zwischen 
Rücken und Nacken auf dasselbe herauskommt und auch noch die 
Schultergelenke stark verdreht.

Die These, dass stärkere Neigung zu größerer Kraftentfaltung führt, weil 
die Streckmuskeln stärker gedehnt sind, scheint mir auch unbewiesen. 
Gerade bergauf, wo hoher Krafteinsatz erforderlich ist, sitzt ja fast 
jeder eher aufrecht, in Bremsgriff- oder Oberlenkerhaltung. Für die tiefe 
Haltung spricht aus meiner laienhaften Sicht nur die Aerodynamik. Ich hab 
auch mal gelesen, dass die Lungen mehr Raum hätten, wenn man deutlich 
aufrechter fährt.

Am besten gefallen hat mir, dass er in seinen Schlussfolgerungen schreibt, 
es gäbe ja zum Glück noch Lenker mit großem Reach und Drop, da sich eines 
sicher nicht geändert hätte: Die Sitzhaltung der Profis.... Zuvor stellt 
er den italienischen Altmeister sogar im Bild dar, der den Lenker bestimmt 
10cm weiter oben hat als jeder heutige Rennfahrer!

Dass die Fahrstabilität im Prinzip bei kurzen Vorbauten bzw. Reach 
schlechter ist, stimmt vielleicht. Beim Wechsel vom 110mm - Vorbau auf den 
90er und den weniger vorgebogenen Lenker hab ich aber keinen Unterschied 
beobachtet. Der Kollege, mit dem ich ab und an fahre, meinte sogar, ich 
hätte eine ausgesprochen spurtreue Fahrweise. Klar, dass man nicht mit 
durchgestreckten Ellbogen fahren sollte, und dass starker Druck auf die 
Hände zu vermeiden ist, wozu man eine gute Stützmuskulatur im Rücken 
braucht.

Wolfgang
Fausto Coppi
Fausto Coppi

 

Hallo Wolfgang,

 
Und Wolfgang, Beiträge zur `richtigen´Sitzposition sollte man nicht allzu ernst nehmen, sondern nur zur Kenntnis.
Auch glaube ich, dass die Amis, als Autonation, da in ihrer Radkulturlosigkeit nur etwas aufarbeiten.  -  Sitzpositionen gehen stark mit den jeweiligen Anforderungen einher. Ein MTB´ler, gar ein Downhiller, sitzt völlig anders  ( und doch richtig ) auf dem Rad als noch ein kilometerfressender Straßenprofi in den 50er Jahren saß. 
Nachdem ich einige Artikel des Autors Jan Heine ( ein Deutschamerikaner ) gelesen habe, habe ich so wie so den Eindruck, es geht ihm primär um die Fahreigenschaft des Rades als (Langstrecken)Mobilitätsgerät und weniger um das Erreichen individuell vernünftiger Sitzpositionen.
Seine Traumrahmen sind höher und länger. So wie sie bis Anfang der 70er Jahre überwiegend genutzt wurden. Erst als die Straßen besser wurden setzten sich die kurzen steilen italienischen Rahmen(bauer) durch. Vielleicht hat man in Kalifornien noch viele offene Wege. Und jeder Lenker lässt sich nur in einem nach vorn gewandten und  gedachten Kreisbogenabschnitt , vom Schultergelenk aus betrachtet, montieren. 
Das mit dem Gegengewicht zur Tretbewegung ist richtig. Der Wunsch, der Versuch das Becken senkrecht zu halten ist ehernes Gesetz im Radsport. 
 
Ich sehe im Coppi Bild den rechten Fuß ziemlich oben und den Raum zwischen Oberschenkel, Bauch und Brust schon recht klein. So sitzt man flach. Bezeichnend ist auch das linke Bein in dieser Stellung nahe dem unteren Totpunkt. Coppis Unterschenkel steht fast senkrecht. Bei waagerechter Kurbelstellung dürfte das Lot vom Knie hinter der Pedalachse liegen. Er sitzt also weit hinten. Die Trittfrequenz dürfte nicht sehr hoch sein. Für die Rückenneigung ist nicht wie Jan Heine zeigt der Winkel zwischen Wirbelsäule und der Waagerechten ( oder der Fahrbahn ) maßgebend, sondern der Winkel zwischen Oberschenkel im oberen Totpunkt der Kurbelstellung und der Wirbelsäule. 
Coppi sitzt wahnsinnig flach. Worauf auch sein sehr runder ( fast buckeliger ) Rücken hindeutet. ( Coppis Obduktion soll ein riesiges Lungenvolumen ergeben haben, das darin Platz fand. Ich sehe auf vielen Coppi Bildern, dass was man `Hühnerbrust`nennt. Gar nicht untypisch bei Radsportlern.) Wenn man sich jetzt auf einen Kreisbogen nach unten die Hände näher an den Körper denkt, müsste der Lenker deutlich tiefer sein. Ändere ich noch den Sitzwinkel in Richtung steiler, kann ich bei gleicher Rückenneigung aerodynamischer sitzen und ggf. eine höhere Trittfrequenz realisieren. Und ich habe die große Sitzüberhöhung, die sich heute an vielen Rädern beobachten lässt. Insgesamt wird sich aber der Druck auf dem Lenker erhöhen. Das will wohl Heine sagen, und vermutet darin eine schlechtere Steuerbarkeit des Rades. Vielleicht so gar berechtigt, wenn es stimmt, dass der ´Wheelflop-Faktor`an heutigen Rädern wieder größer geworden ist. Leider gibt es die Angabe der Steuerohrabsenkung bei Lenkeinschlag in keinem Test. Und ein bestimmter Nachlauf sagt wenig zu den Fahreigenschaften, lässt er sich doch sehr unterschiedlich erreichen.
 
Klaus
 
 
Fausto Coppi
Fausto Coppi
Lieber Klaus,
 
Deine Antwort zu lesen ist ein echter Genuss! Nahezu wissenschaftlich präzise, dazu der riesige eigene Erfahrungsschatz und dann noch das immer hilfreiche Quantum Distanz und vor allem Humor.
 
Interessant auch, dass Du den Wheeelflop-Faktor ins Gespräch bringst. Ich hatte ja mal vor Urzeiten Kfz.-Technik studiert und dabei auch einen Schwerpunkt auf motorisierte Zweiräder gelegt. Dort bewertet man immer nur die Kombination aus Nachlauf und Lenkwinkel und natürlich den Radstand. Der Begriff Wheelflop wird dort kaum, aber dafür in verschiedenen Interpretationen benutzt: Einmal als Maß der Neigung zum Aufschaukeln der Lenkung (Pendeln), einmal als Maß der Steuerrohr-Absenkung bei Lenkeinschlag. 
 
Ein großer (steiler) Lenkwinkel bringt eine kleine Absenkung des Steuerrohrs beim Radeinschlag, ein flacher Winkel eine sehr große. Beispiel: Die Chopper wie in "Easy Rider", bei denen die Lenker im Stand und sehr niedriger Geschwindigkeit beim geringsten Ausschlag von allein bis zum Anschlag wegklappen wollen, was in schnellerer Fahrt durch den übergroßen Nachlauf auf Kosten der Wendigkeit mehr als ausgeglichen wird. Ein harmonisches Fahrverhalten ist das aber nicht. Auch der lange Radstand macht es schwer, solche Fahrzeuge sauber um enge Kurven zu zirkeln.
 
Im Gegensatz dazu haben Trialmotorräder (für extreme Kunststückchen im Gelände bei meist ganz langsamer Fahrt) ganz steile Lenkwinkel und mäßigen Nachlauf, sind also sehr wendig und nur hinreichend fahrstabil sofern es nicht zu schnell wird.
 
Die Fahrstabilität hauptsächlich über den langen Nachlauf erreichen zu wollen, ist ungünstig, da die Verbindung des vorderen und hinteren Reifen-Auflagepunkts sich bei jedem Lenkeinschlag stark aus der Mittelebene des Fahrzeugs wandern würde, was das Rad zum Pendeln bringen kann. Daher ist heute ein eher kurzer Nachlauf in Verbindung mit nicht zu steilen Lenkwinkeln bei Motorrädern Standard. Bei Fahrrädern muss es je nach Einsatzzweck deutliche Unterschiede geben. 
 
Wie nun in diesem Zusammenspiel der Lenkgeometrie speziell beim Rennrad Reach und Vorbaulänge reinspielen, sollte mal Gegenstand einer Masterarbeit sein. Ich denke, die Theorien sind alle noch nicht meßtechnisch überprüft, dabei ist das heute sicher immer noch ein Feld, an dem die Fachwelt großes Interesse hat - sonst gäbe es schon lange keine kippeligen oder allzu kurvenunwilligen Räder.
 
Vielleicht finden wir mal Kontakt zu einer Hochschule, wo man sich über diese Fragen Gedanken machen will.
 
Bis dahin aber heißt das Motto: Lieber gut gefahren als schlecht geforscht! Bis wir alle schönen Strecken gefahren sind, braucht es eh mehr als ein Leben.
 
Wolfgang
 
Hallo lieber Wolfgang,
 
ich bin richtig begeistert, so gar ein klein wenig überrascht ( aber nur ein klein wenig, weiß ich doch wie genau Deine Denke ist ), wie gut Du Dich in der Zweiradphysik auskennst. Fahr-u. Motorrad unterscheiden sich sich darin, wenn überhaupt, nur in den erreichbaren Geschwindigkeiten und den damit einhergehenden Dimensionierungen.
Die Ursache für das mir gottlob nur vom Hörensagen bekannte Pendeln, habe ich noch nie so exakt beschrieben bekommen, wie von Dir. -  Meinst Du das von Radsportlern (auch das habe ich noch nicht selbst erlebt ) beschriebene Shimmy, das Lenkerflattern bei bestimmten (höheren) Geschwindigkeiten, gegen das die Knie ans Oberrohr legen hilft, hat den selben Grund? Oder sind Pendeln und Flattern zwei verschiedene Phänomene?
 
Interessant finde ich im Zusammenhang mit dem Wheelflop-Faktor die Beobachtung an alten Rädern, dass die gewählte Breite des Rennlenkers wohl eher damit korreliert, als eine Anpassung an die Schulterbreite ist. Die Schultern waren in den 20ern nicht breiter als in den 30ern. Und in den 40ern, 50ern u. 60er Jahren sind sie bestimmt nicht noch schmaler geworden. Erst seit den 70ern mit wieder größer werdenden Wheelflop nimmt auch die Lenkerbreite wieder zu. Bis heute. Oder gibt es da doch etwa Ernährungszusammenhänge?
 
Klaus

 

Hallo Klaus,

während einer kurzen Arbeitspause spinne ich unseren Diskussionsfaden mal
weiter. Unter Pendeln versteht die Motorradtechnik niederfrequente
Lenkschwingungen, in der Regel auf Grund äußerer Einwirkung. Beispiel: Ein
Hindernis wird umfahren, der Fahrer lenkt zu diesem Zweck in eine Richtung
und anschließend versucht er, wieder auf die Linie zu kommen. Wenn die
Lenkung ein nahezu ungedämpftes Schwingsystem wäre, folgt daraus eine
schlangenlinienförmige Bewegung mit immer geringeren Amplituden, bis die
Geradeausfahrt erreicht ist. Dieser Zustand ist natürlich unerwünscht, es
soll ja möglichst sofort zurückgelenkt werden ohne Nachschwingen.
Also bedient man sich bei Motorrädern, die durch ungünstige Geometrie oder
Massenverteilung zum Pendeln neigen, Dämpfungsenrichtungen. Früher, in den
50ern und 60ern waren dies meist einfache, mit einem Drehknebel in der
Lenkachse einstellbare Reibungsbremsen. Später wurden und werden weit
wirksamere und vor allem langsame Lenkbewegungen kaum beeinflussende
hydrauliche Dämpfer verwendet.

Pendeln ist also ein zwar relativ ungefährlicher, aber störender
Fahrzustand. Beim Fahrrad habe ich dies in der Form noch nie beobachtet.
Allerdings sind die Massenverhältnisse natürlich ganz anders,
möglicherweise kommt das wirklich nicht vor. Was man dagegen oft sieht,
sind die Lenkausschläge in der Frequenz des Tritts, besonders natürlich
beim Wiegetritt. Das sehe ich aber als Problem der individuellen
Tritttechnik, nicht des physikalischen Systems - oder kannst Du dazu
andere Erfahrungen einbringen?


Anders verhält es sich mit dem zu Recht berüchtigten "Shimmy". Ich
erinnere mich noch gut an das alte Zündapp-Moped eines Mitschülers vor
fast 40 Jahren, das immer bei einer bestimmten Geschwindigkeit
fürchterliches Lenkungsflattern hatte. Da konnte man nur beherzt Gas
geben, bis die kritische Phase überwunden war. Wenn ein Angsthase das Gas
wegnahm, wurde die Sache nur schlimmer.

Das Lenkungsflattern braucht nämlich keine äußere Ursache, sondern beruht
auf wiederholten Anregungen im Schwingsystem Fahrwerk/Lenkung selbst. Eine
Möglichkeit sind leichte Seitenschläge oder Unwuchten im Laufrad. Wenn nun
die Frequenz der Anregung (z.B. Raddrehzahl) genau zur Eigenfrequenz des
Fahrzeugs bzw. dessen Lenksystems passt, schaukelt sich das System
unkontrollierbar auf. Das gilt natürlich auch, wenn Anregung und
Eigenfrequenz in ganzzahligen Vielfachen zueinander stehen, also die
Unwucht auf jede 2. Eigenschwingung trifft.
Die Eigenfrequenz des Fahrzeugs ist im wesentlichen von den Massen der
bewegten Teile und deren Verteilung und Entfernung von der Drehachse
abhängig - physikalisches Grundwissen, kennst Du ja auch noch. Je größer
die Masse und vor allem je weiter diese vom Drehzentrum diese angeordnet
ist, desto niedriger die Eigenfrequenz und umgekehrt.
Es gilt nun, die Eigenfrequenz in einen Bereich zu bringen, der außerhalb
der normalen Anregungsfrequenzen, also z.B. der Raddrehzahl bei normalen
Geschwindigkeiten, ist. Alternativ hilft hier in begrenztem Maß "dämpfen",
bzw. Werkstoffe mit Eigenschaften verwenden, die Dämpfung immanent haben.
Faserverbundwerkstoffe können das ja sehr gut, durch die von Dir schon mal
früher zitierte Anisotropie. Die Massenverteilung lässt sich bei
Fahrrädern in begrenztem Maß beeinflussen: Weniger Laufradgewicht
(besonders Felgen und Reifen), leichte Lenker = hohe Eigenfrequenz.
Allerdings tritt da stets der Fahrer als "Störkomponente" auf, dessen
Gewichtskraft auf den Lenker ja auch "irgendwie" Einfluß nimmt - das Wie
ist aber meines Wissens ein ungelöstes Rätsel.
Motorradbauer gehen mitunter den umgekehrten Weg: Simple Bleigewichte in
den Lenkerenden senken die Eigenfrequenz der ohnehin schwereren Systeme so
weit ab, dass diese in der Fahrpraxis auch keine störende Rolle mehr
spielen. Fürs Rad eher kein sinnvoller Weg ;-)

Ich denke daher, dass moderne Carbonrahmen mit gezielt berechneten
Steifigkeiten und hoher Eigendämpfung viel gebracht haben, um "Shimmy" zu
überwinden. Wenn ich an ein Alu-Tourenrad der allerersten Generation
denke, das ich vor Jahrzehnten mal kurz hatte, oder an das "Mixte"-Rad von
Doris vor vielen Jahren, sehe ich da weit mehr Potential zum
Lenkerflattern, da ganz sicher bedingt durch die geringe Steifigkeit der
Rahmen in seitlicher Richtung. Mit 70 den Berg runter hätte ich damit
nicht fahren wollen!

Noch eine abschließende Frage zur Lenkerbreite, deren Veränderung im Lauf
der zeit Du erwähnt hattest: Welche Dimensionen fuhr man denn früher,
bevor der Trend wieder zu breitern Teilen ging?

 

Wolfgang

 

Hallo Wolfgang,

ich habe die Begriffe und Phänomene Pendeln und Shimmy noch nie so beschrieben bekommen, und mir sofort Deine Mail für meine Sammlung an Technikunterlagen ausgedruckt. Ich werde sie demnächst bei Bedarf zur Erklärung anderen Radsportlern zukommen lassen. Dein Einverständnis vorausgesetzt.

Neulich las ich noch den Leserbrief eines Radsportlers über sein "Shimmy" und die redaktionelle Antwort, er möge doch ´mal einen Rollenlagersteuersatz versuchen. Man weiß es nicht besser.

Aber ich jetzt!  -  Ich bin so was von begeistert über Dein Zweiradwissen, Du kannst es Dir nicht richtig vorstellen!

Wheelflop und Lenkerbreite:  
1927  Alcyon Tour de France     f: 23mm  Lenkerbreite  465mm
1939  Oscar Egg                           f: 21mm  Lenkerbreite  420mm
1949  Fausto Coppis Bianchi     f:   9mm  Lenkerbreite   400mm
1974  Eddy Merckx  De Rosa     f: 14mm  Lenkerbreite  425mm
2012  keine Angaben zum Wheelflop-Faktor herstellerseits und in den Radtests, aber Lenkerbreite 440mm ist schon Standart und breitere durchaus zu beobachten

 

Klaus

 

Hallo Klaus,

ich hab ein wenig recherchiert und
endlich weitere Info zum Wheelflop-Faktor f bekommen. Anscheinend wird
diese Größe fast nur in USA betrachtet. Sie ist nichts anderes als ein
simpler Rechenwert aus Nachlauf und Lenkwinkel:

f = Nachlauf x Sinus Steuerwinkel x Cosinus Steuerwinkel

mit 54mm Nachlauf und 74° Lenkwinkel (aus dem Tour-Test) ergibt das bei
meinem Madone 14,3mm. Falls der Lenkwinkel 73° beträgt, wie in einer
anderen Quelle gefunden, wäre der Wert schon 15,09mm.
Mit einem nur 405mm breiten Lenker (Mitte-Mitte Rohr) fahre ich sehr gut
dabei. Gemäß Schulterbreite sollte der Lenker etwas breiter sein, aber mit
dem gewünschten geringen Drop und Reach gibt's den Ritchey-WCS-Lenker nur
so. Gegenüber dem 420mm-Originallenker merkte ich keine Änderung in punkto
Fahrstabilität.

Meiner bescheidenen Meinung nach braucht man den wheelflop-Faktor nicht
wirklich. Es reicht, auf die beiden Einzelwerte zu schauen, wobei der
Einfluß eines flacheren Lenkwinkels rechnerisch etwas stärker als der
eines längeren Nachlaufs ist, jedenfalls sofern dieser Winkel im üblichen
Bereich oberhalb 70° liegt. Vielleicht ist die Angabe deshalb nicht mehr
so im Fokus.

Der Vorschlag, eine Shimmy-Neigung mittels anderem Steuersatz zu
bekämpfen, klingt erst mal blöd. Aber da Flattern bereits durch kleinste
Störungen initiiert wird, genügt oft auch eine ganz kleine Änderung, um
dieses Phänomen zu bekämpfen. Die etwas höhere Reibung eines neuen und
spielfrei angezogenen Steuersatzes mag schon reichen. Richtig ist es
natürlich, erst mal typische Störgrößen wie schlecht zentrierte Räder,
nicht rund laufende Reifen oder Unwuchten zu eliminieren.

Klar kannst Du meine Abhandlung auch Anderen zur Verfügung stellen. Ich
such auch mal auf der Bühne mein altes Lehrbuch zur Motorradtechik. Da
steht vielleicht etwas zu den Grundsätzen der Fahrdynamik - wissen tu
ich's nicht mehr so genau, schließlich hörte ich das Studienfach schon
1980/81...

Wolfgang

 

Hallo Wolfgang,

 
danke noch mal für Deine tollen Erläuterungen. Die Rechenformel für f ist mir bekannt. Das Rechnen mit Winkelfunktionen fällt mir aber ungeübt nicht leicht. Ich benutze daher die Kalkulatoren unter :  http://yojimg.net/bike/web_tools.
 
Interessant finde ich auch die Road Drop Bar Geometry auf der Seite www.velo-retro.com unter Links to other great bikes sites, More Info. Überhaupt sind diese Links eine sehr ergiebige Quelle für Beschäftigungen an langen Winterabenden ( mit oder ohne einem Glas Rotwein ).
 
Ich fand den Rat mit dem Walzenlager-Steuersatz u.a. auch so putzig, weil meines Erachten die Walzen sich ja auf einer Kreisebene nicht richtig abrollen. Es müssten Kegel sein. Und gibt es heute noch Walzensteuersätze? Als es sie gab, ließen sie sich sehr schlecht einstellen und sollten wohl auch primär den Verschleiß reduzieren. Im Vergleich mit einer Kugel hat eine Walze natürlich eine viel größere Auflagefläche, und arbeitet sich nicht so schnell in die Lagerschale ein.
 
Klaus

 

Moinmoin Klaus,

freut mich sehr, dass Dich das Buch von Peter Winnen so fesselt. Ich
konnte auch kaum weg davon, wahrscheinlich werd ich mir auch noch seine
Essays bei Covadonga bestellen. Der Winter steht ja vor der Tür, außerdem
noch hin und wieder eine Bahnreise.
Zuvor las ich übrigens auch was Nettes: Marbod Jäger "zu spät geschaltet"
- teils Realismus, teils Realsatire und auf jeden Fall für mich wichtig,
um die Warnzeichen des entstehenden Rennradwahns zu erkennen... ;-))

Danke auch für die hochinteressanten Links! Hatte bisher sehr wenige
Seiten aus dem angelsächsischen Sprachraum gefunden, mit denen ich was
anfangen kann. Hier sehe ich mich auch schon länger im Netz verweilen als
gedacht. Der Berechnungsansatz geht ja vom "Fork Offset" aus, der eher
nicht in den Daten der Räder zu finden ist. So hab ich kurz mal
durchprobiert, bis sich auf den Nachlaufwert, der mir ja bekannt ist,
gekommen bin. Die Ergebnisse passen stimmen zu der bekannten Formel.

Ob es noch Walzensteuersätze für Fahrräder gibt, weiß ich nicht. Bei
Motorrädern kann ich zumindest bestätigen, dass BMW seit den 1970er Jahren
Kegelrollenlager eingebaut hat, also das, was geometrisch korrekt ist.

Wolfgang